Petra Thiesmeyern
Mein Mann und ich sind seit 2005 immer mal wieder Pflegeeltern auf Zeit. Unsere Pflegekinder kommen aus Afghanistan und leiden an schweren angeborenen Herzfehlern. Sie werden im Herzzentrum Bad Oeynhausen in der Klinik für angeborene Herzfehler operiert und kehren nach einer Zeit der Genesung wieder in ihr Land und zu ihren Familien zurück. Ohne diese Operation hätten Sie keine Chance gehabt, das Erwachsenenalter zu erreichen.
Einem der afghanischen Kinder, Mojtaba, ging es im Vorfeld so schlecht, dass er beinahe den anstrengenden Flug ( damals noch mit 7-stündigem Aufenthalt in Dubai) nicht überlebt hätte.
Die OP 2007 war erfolgreich.
Allerdings waren die Vorschädigungen so groß, dass er zu einem späteren Zeitpunkt ein zweites Mal operiert werden muss.
Aus diesem Grund kommt er, wenn irgendwie möglich, jedes Jahr zur Nachuntersuchung nach Deutschland.
Mojtaba und unser erstes Pflegekind Farsad sind wieder in Afghanistan bei ihren Familien und besuchen die Armani – Oberrealschule in Kabul.
Ich erwähne das, weil der Besuch einer Schule für viele afghanische Kinder leider nicht selbstverständlich ist.
Im Oktober 2009 reiste ich zum zweiten Mal nach Kabul, um mich vom Wohlergehen unserer beiden Pflegekinder zu überzeugen: der damals ca. 4 jährige Farzad, den wir 2005 für 5 Monate bei uns aufnahmen und Mojtaba, der 2007 als 7jähriger über eine Hilfsorganisation zu uns kam. Wie auch bei meinem ersten Besuch, wurde ich von den Familien der Kinder sehr herzlich empfangen, und die Wiedersehensfreude hätte nicht größer sein können. Ich wurde immer wieder von den Familien zu Ausflügen, zum Essen und sogar zu einer afghanischen Hochzeit eingeladen. Die Gastfreundschaft ist unbeschreiblich. Eigens für die Hochzeit wurden meine Maße genommen, und am nächsten Tag hatte ich eine farbenfrohe maßgeschneiderte afghanische Festkleidung, die ich zu den Feierlichkeiten tragen sollte. Übrigens feiern hier die Männer und Frauen getrennt voneinander Hochzeit. Für uns Europäer ist Afghanistan eine ganz andere, faszinierende Welt.
Neben den schönen Erlebnissen mit den Menschen dort, gibt es aber auch die schlimme Seite von Afghanistan: u.a. die kriegsähnlichen Zustände, die große Armut, schlechte oder gar keine Schulbildung der Kinder (besonders der Mädchen) und eine unvorstellbar schlechte medizinische Versorgung der Bevölkerung. Auch bei meinem zweiten Aufenthalt in Kabul besuchte ich ein Krankenhaus. In dem einzigen Kinderkrankenhaus in ganz Afghanistan herrschen Zustände, die man sich gar nicht vorstellen mag. Die Eindrücke dort, die großen Schmerzen und die Hoffnungslosigkeit der Kinder brennen sich einem ein. Aber nicht nur das was man sieht, sondern auch die Gerüche nach Eiter und Verwesung, werde ich nie wieder vergessen.
An einem der nächsten Tage nach dem Krankenhausbesuch lernte ich Negara kennen, ein kleines 5jähriges Mädchen. Sie war in Begleitung ihrer Tante. Diese Tante wandte sich an mich und bat um Hilfe für ihre herzkranke Nichte.
Am Tag meiner Abreise flog ich mit vielen Geschenken beladen, Tüchern, Nüssen, Rosinen und einer 20kilönigen Wassermelone von Mojtabas Vater für meinen Mann, und, was am wichtigsten war, mit den Ultraschallbildern des Mädchens Negara im Gepäck, nach Deutschland zurück . Hier stellte ich den Fall, mit einem kleinen Foto von dem Mädchen, in der Klinik für Angeborene Herzfehler im Herzzentrum Bad Oeynhausen vor. Negara hatte großes Glück, denn dort wurde nicht lange überlegt. Wir bekamen eine Zusage für die Finanzierung der Behandlung aus Drittmitteln sowie die Behandlungszusage von Prof. Dr. Kececioglu.
Wir haben uns dann um die Erledigung der umfangreichen Formalitäten, wie Visum, Flug, Versicherung, Bescheinigungen von Behörden und Ärzten usw. gekümmert. Die Zeit schien uns davonzulaufen, doch irgendwann hatten wir, mit viel Unterstützung der jeweiligen Stellen, alles zusammen. Und so flog dann Ende Dezember 2009 nicht nur unser Pflegekind Mojtaba zur Nachuntersuchung ein, sondern auch ein kleines fünfjähriges afghanisches Mädchen mit 20 Kilo Reis im bzw. als Gepäck. Nach umfangreichen Voruntersuchungen wurde noch im alten Jahr die Herzoperation vorgenommen. Dr. Eugen Sandica, der Direktor der Kinderherzchirurgie und sein Team schlossen das große Loch in der Herzscheidewand und ersetzten die fehlende Klappe der Lungenschlagader des Mädchens. Danach ging es Ihr sehr schnell besser. Wir waren ganz erstaunt, als sie nach wenigen Tagen bereits die Klinik verlassen konnte.
Nach ein paar weiteren Tagen der Schonung war sie schon nicht mehr zu stoppen und tat alles das, was andere Kinder auch gerne tun: im Wiehengebirge rodeln gehen, Laufrad fahren und herumtoben. Wie auch Farzad und Mojtaba in den Jahren zuvor, konnten wir sehen, wie sehr sie es genossen hat, sich zu bewegen, ohne, wie ein Fisch an Land nach Luft schnappen zu müssen und ohne gleich wegen Sauerstoffmangel blau anzulaufen und ohnmächtig zu werden. Es ist jedesmal wie ein Wunder. Man kann dabei zusehen wie diese Kinder in ihrem „zweiten Leben“ aufblühen. Für Mojtaba teilt sich das Leben tatsächlich in zwei Abschnitte: wenn er irgendein Ereignis zeitlich einordnet, dann spricht er von „vor der Operation in Deutschland“ und „nach der Operation“. Während Mojtaba wie in den Jahren davor, die Grundschule in Bad Oeynhausen/Dehme besuchte, ging Negara in den Kindergarten in Dehme. Auch davon haben die Kinder sehr profitiert. Negara hat, wie auch die Jungs zuvor, in nur drei Monaten ganz ordentlich Deutsch gelernt. Als ihr bei einem der Telefonate mit Ihrer Familie ein afghanisches Wort nicht einfiel und ihr ganz automatisch die deutsche Bezeichnung über die Lippen kam, war ihr Vater zunächst ganz erstaunt, aber dann wohl auch beeindruckt und ein wenig stolz. Denn er hat sie bei den nächsten Telefonaten immer ein paar Sätze ins Deutsche übersetzen lassen.
Nachdem die Ärzte für Negara grünes Licht gegeben hatten und, für Mojtaba rechtzeitig zum afghanischen Schuljahresbeginn, setzten wir dann beide Kinder Mitte März in das Flugzeug nach Kabul, wo sie sieben Stunden später von Ihren überglücklichen und dankbaren Familien in Empfang genommen wurden.
Im Nachhinein können wir sagen, dass wir jedesmal eine anstrengende, aber gleichzeitig sehr schöne und intensive Zeit mit den Kindern hatten. Wir bewundern die Zähigkeit, mit der die Kinder die Herausforderung meistern und die Leichtigkeit, mit der die Kinder sich zwischen, nein, eigentlich muss man sagen in den zwei Welten bewegen können. Sie legen einfach den Hebel um – und weiter geht’s.
Wir haben immer noch Kontakt, verfolgen ihren Werdegang und versuchen, sie wenn nötig und möglich, zu unterstützen. – Wir machen das sehr gerne.