Folgender Artikel ist in der Neue Westfälische, Lokalteil Löhne, erschienen:
Ein starker Tritt
Mia aus Afghanistan macht trotz Prothese eine Gürtelprüfung in Karate
VON ANNA-LENA GÖSSLING
Löhne. Konzentriert fixiert Mia einen Punkt an der Wand. Rechts, links. Kraftvoll schlägt er seine Faust nach vorn. Mias Füße schnellen in die Höhe. Seine Tritte sind nicht weniger kraftvoll oder hoch als die der anderen Karateschüler. Nur bei genauem Hinsehen, erkennt man, dass Mias rechter Fuß anders steht, nämlich im rechten Winkel. Seit der Amputation seines Fußes trägt der 14-Jährige eine Prothese. Trotzdem meisterte er seine Sportkarateprüfung und darf nun den Gelbgurt tragen.
Seit dem 15. Dezember 2011 ist der junge Afghane wieder in Löhne. Wie in den Jahren zuvor wohnt er bei Doris Horn und Karl Koch. In der Woche besucht er die Schule am Weserbogen in Eidinghausen. Sonst dreht sich bei Mia alles um den Sport. Strahlend erzählt er, dass er bei den Landesschwimmmeisterschaften der Schulen für Kinder mit Behinderungen den zweiten Platz belegt hat.
Noch wichtiger als das Schwimmen ist dem Jungen aber eines: Sportkarate. “Bei Mias letztem Besuch fragte uns Frau Horn, ob Mia bei uns mitmachen könne”, erinnern sich Gerd und Sabine Stingl von der Sportschule Stingl.
“Zunächst hatten wir Bedenken”, gibt Gerd Stingl zu: “Wir konnten nicht einschätzen, wie schwierig es werden würde. Wir wollten nicht, dass er enttäuscht wird.” Doch die Bedenken waren schnell verflogen. Ob bei den Gleichgewichtsübungen, beim Dehnen oder bei den Trittübungen, Mia ist immer vorne mit dabei. Natürlich verliert auch er hin und wieder das Gleichgewicht oder streckt das Bein nicht weit genug.
Auf die Ausrede, dass daran die Prothese Schuld sein solle, greift Mia als wahrer Sportsmann aber nicht zurück: “Die Prothese behindert mich nicht. Ich habe auch keine Schmerzen mehr. Ich merke sie kaum!”
Den besten Beweis dafür liefert Mia, wenn er es ist, der sich am Ende der Trainingsstunde ein Spiel wünschen darf: “Am liebsten spiele ich Packen. Ich liebe es, schnell zu rennen und zu versuchen, den anderen zu entkommen.”
Ein Wunsch blieb bisher jedoch offen: die Prüfung zum Gelbgurt. Die gibt es bei der Sportschule Stingl nur zweimal im Jahr, Anfang Dezember und im Sommer. Da war Mia schon wieder in seiner Heimat Afghanistan. “Dieses Mal, wollten wir es uns aber nicht nehmen lassen, Mia für seine Disziplin und sein Talent auszuzeichnen. Deshalb haben wir eine Sonderprüfung ganz alleine für Mia dazwischengeschoben”, erklärt Sabine Stingl. “Mia hat sich wahnsinnig gefreut. Jeden Tag hat er zu Hause geübt. Ich durfte immer als Partnerin herhalten”, erzählt Doris Horn.
Schnell konnte Mia den weißen gegen den gelben Gurt tauschen. Auch Prüfer Bernd Segelbach war begeistert: “Hätte ich nicht gewusst, dass Mia eine Prothese trägt, hätte ich es nicht gemerkt. Er ist sehr talentiert. Heute wäre sogar ein Grüngurt drin gewesen.”
“Die Prothese war bei uns nie ein Thema. Wer nichts davon wusste, merkte auch nichts davon”, erzählt Sabine Stingel nach der Prüfung. Auch er stürzt nach dem Training gemeinsam mit den anderen Jungen in die Umkleidekabine. Und wenn man Mia nach seiner Prothese fragt, krempelt er auch gerne einmal sein Hosenbein hoch und berichtet fast stolz: “Diesmal gab es eine neue Prothese für mich. Ich hatte mir Rot gewünscht. Dass auch noch schwarze Farbe dabei ist, finde ich cool. Sieht doch super aus, oder?”
Dass Mia so gut mit seiner Prothese zurechtkommt, freut auch Elmar Bitter und Ralf Torunski, von der Orthopädie der Auguste Viktoria Klinik. Auch die Beiden wollten sich Mias Prüfung nicht entgehen lassen: “Dass Mia so fit ist, macht es uns leicht, die Prothese anzupassen.” Dafür, dass das so bleibt, wird Mias Ehrgeiz sorgen: “Am 10. März fliege ich zurück nach Afghanistan. Bis zu meinem nächsten Besuch werde ich natürlich kräftig trainieren. Und dann hol ich mir den nächsten Gurt!”
Zu dem Artikel gehört folgende Fotostrecke (Fotos: ANNA-LENA GÖßLING):